Start Allgemein Stresstest wider Willen in Europas Stromnetzverbund

Stresstest wider Willen in Europas Stromnetzverbund

 

Am 8. Januar 2021 schrammte Europa infolge erhöhter Frequenzschwankungen im Stromnetzverbund möglichweiser an einem Blackout vorbei. Kurz nach 14 Uhr fiel im kroatischen Umspannwerk Ernestinovo durch das Auslösen des Überstromschutzes eine 400 kV Sammelschienenkupplung aus. Darauf setzte eine Kettenredaktion ein, die letztlich das nordwestliche von dem südöstlichen Netzgebiet trennte. Die Trennlinie verlief durch die Länder Kroatien, Serbien und Rumänien. Das geht aus den ersten Untersuchungen bzw. dem aktuellen Zwischenbericht des Verbandes der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E hervor. Darüber informierte am 26. Januar 2021 der Verband und der österreichische Übertragungsnetzbetreiber APG.

Ereigniskette im einstündigen Netzsplit

Die Kette der Ereignisse lief laut APG im Detail wie folgt ab:

  • „Das auslösende Ereignis: Ausfall einer 400 kV Sammelschienenkupplung im Umspannwerk Ernestinovo (Kroatien) durch Überstromschutzauslösung um 14:04:25.9
  • dies führte zu einer Entkopplung der beiden Sammelschienen im Umspannwerk Ernestinovo, wodurch die Stromflüsse im Nordwesten und Südosten des Umspannwerks getrennt wurden (Graphik 1: Ursprung der Frequenzstörung) Enkoppelung der Sammelschiene im UW Ernestinovo)
  • Trennung der Ströme im Umspannwerk Ernestinovo führte zur Verlagerung der Stromflüsse auf benachbarte Leitungen, die dadurch überlastet wurden
  • 14:04: 48.9 Uhr Ausfall der Leitung Subotica – Novi Sad (Serbien) wegen Überstromschutzauslösung
  • Ausfallen von weiteren Leitungen (insgesamt 14) aufgrund des Überstrom- und Distanzschutzauslösung (Graphik 2: Kettenreaktion)
  • Trennung des Systems in zwei Teile um 14:05:08.6 Uhr
  • Die Resynchronisierung der beiden Teile konnte um 15:08 wiederhergestellt werden.“

Das Gebiet südlich der Trennlinie wies laut APG zu diesem Zeitpunkt Erzeugungsüberschüsse auf, die wegen der ausgefallenen Leitungsverbindungen nicht mehr in den Zentralraum Europas transportiert werden konnten. In der Folge stieg die Netzfrequenz in Südosteuropa auf bis zu 50,6 Hertz (Abweichung um 600 mHz) mit anschließender Reduktion der lokalen Erzeugungsleitung an. Im nordwestlichen Netzgebiet fehlten nach der Netztrennung die Erzeugungsmengen aus Südosteuropa. Das ließ die Frequenz dort auf 49,74 Hertz (Abweichung um 260 mHz) absinken.

Maßnahmen im Stromnetzverbund

Im Fall einer solchen Störung setzen APG zufolge automatisierte und europaweit abgestimmte Systemschutzmaßnahmen ein. Um das Netz wieder zu stabilisieren, mussten Großverbraucher in Frankreich und Italien, die den Übertragungsnetzbetreibern vertraglich vergütete Systemdienstleistungen zur Verfügung stellen, demnach ihre Last um rund 1.700 Megawatt herunterfahren. Da die Frequenzabweichung unter der Kennlinie von 1.000 mHz blieb, waren Endkunden nicht betroffen.

Dazu erfolgte das Anfahren kurzfristig verfügbarer Kraftwerksreserven in verschiedensten Ländern. Neben der auf Frequenzabweichungen automatisch reagierenden Primärregelleistung aller Länder aktivierte Österreich weitere Kraftwerksreserven.

Zum Zeitpunkt des Störungseintritts war die Regelzone der APG ausbilanziert. Marktbasierte Regelreserveprodukte, hier Primärregelreserve und Tertiärregelreserve, griffen stabilisierend ein. Darunter stellten zu knapp 86 Prozent Wasserkraft 281 Megawatt bereit. Den Rest lieferten Batterien, unkonventionelle und thermische Anlagen.

Durch diese Maßnahmen ließ sich das normale Betriebsniveau von 50 Hz (Sollfrequenz) wiederherstellen, so dass die zwei getrennten Netzgebiete anschließend verbunden werden konnten. Für APG hat sich hier die europäische Zusammenarbeit zwischen den Übertragungsnetzbetreibern und die Koordinierung bestens bewährt. Die Behebung des Stresstestes wider Willen dauerte eine Stunde und zeigte, dass Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem ähnlich gelagerten Störfall am 4.11.2006 Früchte trugen. Alle Übertragungsnetzbetreiber erhalten seitdem vordefinierte Meldungen, graphische Darstellung und Warnungen in Echtzeit, so dass sie stets über den letzten Informationsstand verfügen.

Ursachenforschung läuft noch

In den nächsten sechs Monaten soll ENTSO-E einen Endbericht zum Gang der Ereignisse vorlegen, um die Ursache für den unfreiwilligen Stresstest im Stromnetzverbund zu klären. Die APG stellte vorab hierzu schon einmal klar: „Die Energiewende bzw. die Erneuerbaren Energieträger stehen aus heutiger Sicht in keinem Zusammenhang mit den Geschehnissen vom 8.1.2021.“ Zugleich seien der Ausbau der Netzinfrastruktur in Österreich und Europa, zusätzliche Speicherkapazitäten, ausreichende Kraftwerksreserven und weitere Flexibilitätsoptionennötig nötig, um die Volatilitäten der Erneuerbaren auszugleichen und die sichere Stromversorgung nachhaltig zu gewährleisten.

Der kroatische Übertragungsnetzbetreiber HOPS bestreitet serbischen Medien zufolge Anfang Februar, dass im Umspannwerk Ernestinovo eine Fehlfunktion aufgetreten ist, die europaweit zu einem Blackout hätte führen können. Das HOPS-Betriebspersonal soll die beiden getrennten europäischen Netzgebiete wieder verbunden haben, indem es den Schalter im Umspannwerk Ernestinovo eine Stunde nach dem Zeitpunkt der Netztrennung ausschaltete. Der europäische Stromnetzverbund sei auf derlei Störfälle vorbereitet und gerüstet, diese zu beheben. Daher sei der Stromnetzverbund niemals durch einen vollständigen oder begrenzten Ausfall bedroht gewesen. An der Untersuchung zu den Ursachen, der Chronologie und den Folgen des Vorfalls auf europäischer Ebene beteiligt sich HOPS als Mitglied in eiern Expertengruppe bei ENTSO-E.